10 GB Erinnerungen
Dieser Text beschreibt die tiefgreifenden Emotionen, die der Verlust eines geliebten Menschen hervorrufen kann. Es geht um den schmerzhaften Prozess des Erinnerns und Loslassens, aber auch um die liebevollen und freudigen Momente, die in der Trauer einen Platz finden können.
Immer wieder stolpere ich beim Aufräumen meiner Festplatten auf den Ordner "Julian". Es sind alle Fotos die ich von meinem verstorbenen Sohn noch habe. Es sind 74 Dateien, die meisten Fotos aus seinem ganzen Leben und ein Video das ich kurz nach seinem Tod allein und gebrochen aufgenommen habe. Dazu gibt es noch 5 Videodateien die ich ein Jahr nach seinem Tod aufnahm. Alles in allem 10 GB.
Dieser Ordner ist wie eine Narbe an der man immer wieder reibt und noch ein bisschen Schmerz spürt. Man reibt anfangs heftig, täglich und regelmäßig. Es ist wie ein Schmerz der bewussten Erinnerung. Man möchte dieses Gefühl des Verlusts nochmal spüren. Es ist skurill aber es ist bei mir so. Vor Jahren hatte ich eine OP an der Hand, an der Narbe rieb ich auch immer wieder, auch wenn nichts mehr war. Ja sogar heute noch ertappe ich mich wie ich der Hand reibe und dann fällt mir auf dass ich vergessen hatte welche Hand es war.
Neulich erst fand ich die offline Variante der 10 GB, es ist ein brauner Umschlag mit allen möglichen Fotos und Zeitungsauschnitten über Julian. Meist aus Kindergartentagen. Immer wieder betrachtet ich die Fotos und saß dabei auf unserem Bett.
Was macht man mit diesen Erinnerungen? Wozu sind sie da? Um mich an meinen Sohn zu erinnern brauche ich die Fotos eigentlich nicht.
Immer wieder merke ich, dass ich meine eigene Geschichte seines Lebens und auch seines Todes habe. Diese Geschichte ist so intim und so filigran, so traurig und gleichzeitig auch so liebevoll. Gegen diese Geschichte sind die 10 GB ein Witz.
In den ersten Jahren seines Todes habe ich viel mit ihm gesprochen. Meist verunsichert was ich da tue. Wenn man es genau nimmt ist es so etwas wie "Channeling". Ich frage ihn etwas und ich bekomme (meist) eine Antwort. Es sind lange Konversationen die wir führ(t)en. Zu Anfangs ging es um meine Trauer, meine Wut und Hass seiner Mutter gegenüber, meine Verzweiflung und meine neue Aufgabe in mder neuen Familie. Noch davor ging es allerdings um ihn. Sein Sterbeprozess, was er erlebt hat, wie alles passiert ist und vor allem das es nicht absichtlich war.
Für die Außenwelt stehe oder sitze ich dabei nur am Fenster und schaue raus. Diese Gespräche sind so wichtig für mich geworden. Weil es einfach heftig ist sein Kind zu verlieren.
Diese 10 GB, dieser braune Umschlag - sie sind wie ein Anker, der mich in die Realität zurückzieht, wenn meine Erinnerungen beginnen, wie ein Traum zu verblassen. Sie erinnern mich daran, dass Julian nicht nur eine Figur in einer Geschichte war, die ich mir selbst erzähle, sondern ein echter Mensch mit seinem eigenen Lachen, seinen eigenen Träumen und seinen eigenen Geschichten, die er nicht mehr erzählen kann. Sie sind ein ständiges Zeugnis für seine Existenz. Auch nach seinem Tod.
In manchen Momenten, zum Beispiel wenn ich diese Bilder so betrachte, spüre ich ihn. Es ist wie ein elektrischer Strom, ein streicheln über meine Haare, meinen Nacken. Manchmal kann ich richtig wahrnehmen dass er es ist. Manchmal sitzt er neben mir und seltsamerweise rieche ich dann ein bisschen Zigarettenrauch um meine Nase wehen.
English Version:
10 GB of memories
I often stumble upon the folder "Julian" while organizing my hard drives. It contains all the photos I have of my deceased son. There are 74 files, mostly photos from his entire life, and a video I recorded shortly after his death, alone and broken. Additionally, there are 5 video files I recorded a year after his passing. Altogether, it amounts to 10 GB.
This folder is like a scar that I keep rubbing, feeling a bit of pain each time. Initially, I rubbed it vigorously, daily, and regularly. It's a pain of conscious remembrance. One wants to feel that sense of loss again. It's surreal, but that's how it is for me. Years ago, I had a surgery on my hand, and I would rub the scar repeatedly, even when there was nothing left. Even today, I catch myself rubbing my hand, only to realize that I had forgotten which hand it was.
Just recently, I found the offline version of those 10 GB: a brown envelope containing various photos and newspaper clippings about Julian, mostly from his kindergarten days. I repeatedly looked at the photos, sitting on our bed.
What does one do with these memories? What purpose do they serve? I don't actually need the photos to remember my son.
I often realize that I have my own narrative of his life and death. This story is so intimate and delicate, so sad yet filled with love. Compared to this story, the 10 GB are trivial.
In the first years after his death, I spoke to him a lot, often unsure about what I was doing. If you look at it closely, it's something like "channeling." I ask him something, and (mostly) I receive an answer. We had long conversations. Initially, it was about my grief, my anger and resentment towards his mother, my despair, and my new role in the new family. But even before that, it was about him. His process of dying, what he experienced, how everything happened, and above all, that it was not intentional.
To the outside world, I may appear to be standing or sitting by the window, gazing outside. These conversations have become so important to me because losing a child is simply devastating.
These 10 GB, this brown envelope—they are like an anchor that pulls me back into reality when my memories begin to fade like a dream. They remind me that Julian was not just a character in a story I tell myself, but a real person with his own laughter, dreams, and stories that he can no longer share. They are a constant testament to his existence, even after his death.
In some moments, for example, when I look at these pictures, I feel him. It's like an electric current, a gentle stroke over my hair, my neck. Sometimes I can truly sense that it's him. Sometimes he sits beside me, and strangely enough, I can smell a hint of cigarette smoke wafting around my nose.